Der Jahresbericht von Sekten-Info NRW 2024

Wenn weltanschauliche Gruppen zur Gefahr für Kinder und Hilfesuchende werden

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Eingereichtes Kunstwerk im Rahmen des DA! Art Awards zum Thema "Check your Dogma"
Gemälde "Wir glauben (nicht)"

Der jetzt veröffentlichte Jahresbericht 2024 der Sekteninfo NRW beleuchtet, wie Menschen in verletzlichen Lebensphasen in die Abhängigkeit von religiösen und ideologischen Gemeinschaften geraten.

Eine Mutter nimmt ihr Kind aus der Schule, weil sie Überlebenstraining und Umgang mit Waffen für wichtiger hält als den Unterricht. Sie rechnet mit baldigen gesellschaftlichen Umwälzungen, bei denen man sich selbst verteidigen müsse. Zudem sieht sie die Schule als Werkzeug des "bösen Besatzungsstaates BRD", der nur entsprechende Inhalte vermittle.

Eine Jugendliche gerät während der Schulschließung im Zuge der Pandemie durch Telegram-Gruppen in Kontakt mit Verschwörungsglauben und spirituellen Vorstellungen. Nach Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts zeigten sich Schulprobleme. Für ihre zahlreichen Fehlstunden wird die junge Frau von der Online-Community gefeiert, als Zeichen des Widerstands gegen "das System". Als die Versetzung in den Abiturjahrgang gefährdet ist, wendet sich die Schulsozialarbeiterin hilfesuchend an die Sekteninfo.

Zwei Fallbeispiele für Schulverweigerung aufgrund konfliktträchtiger Weltanschauung und Verschwörungsglauben: Beschrieben hat sie der Psychologe Niklas Boldt, der als Referent und psychologischer Berater bei Sekteninfo NRW tätig ist. Beide basieren auf tatsächlichen Beratungsfällen, mit denen Boldt und seine Kollegen immer wieder konfrontiert werden. Seit der Pandemie habe das Thema zunehmend an Bedeutung gewonnen, wie Boldt im Jahresbericht der Sekteninfo schreibt. Längst sei es nicht mehr auf religiöse Splittergruppen beschränkt: Auch Reichsbürger, Querdenker und Anhänger von Verschwörungsideologien versuchen, ihre Kinder bewusst der staatlichen Kontrolle zu entziehen. Teils kommt es zur Gründung von eigenen "alternativen" Schulen, oft ohne Genehmigung und mit zweifelhafter pädagogischer Qualität.

Als Alternativen zum staatlichen Bildungswesen würden auch Schulen der sogenannten Schetinin-Pädagogik beworben, die der völkisch-esoterischen "Anastasia-Bewegung" nahestünden. Doch ideologisch und religiös motivierte Schulverweigerung untergräbt das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Bildung und kann schwerwiegende Auswirkungen auf die spätere Lebens- und Berufsperspektive junger Menschen haben, so Boldt weiter. In mehreren der insgesamt 66 Fälle von Kindeswohlgefährdung, in denen Sekteninfo NRW laut Bericht tätig war, spielte Schulverweigerung eine zentrale Rolle.

Beim Zusammentreffen von christlichem Fundamentalismus und professioneller sozialer Arbeit kommt es ebenfalls häufig zu Konflikten, wie der Beitrag von Erziehungswissenschaftlerin Jule Linder zeigt. Oft seien es ehrenamtliche Helfer ohne entsprechende Fachausbildung, die ratsuchende Menschen in vulnerablen Lebenssituationen "beraten". Statt weltanschaulich neutraler Unterstützung erhalten die Klienten vielfach religiöse Unterweisung – und geraten in eine neue Abhängigkeit.

Ein geschilderter Fall betrifft einen jungen Drogenabhängigen mit psychischen Herausforderungen, der durch einen angeblichen Streetworker in eine Art Wohngemeinschaft eingeladen wurde. Dort herrschte ein streng religiöser Tagesablauf mit Gebeten und Bibelstunden, und man versprach ihm, Jesus Christus könne ihn von der Sucht befreien. Die ehrenamtlichen Betreuerinnen und Betreuer gehörten einer christlichen Gruppe an und besaßen keinerlei Qualifikation in Sozialer Arbeit.

In einem anderen Fall hätte man die Klienten angehalten, "Konferenzen" mit dem "Pastor" einer Freikirche zu besuchen. Dort fänden ekstatische Gebete und sogar "Dämonenaustreibungen" statt und man habe die Klienten mit Missionierungsversuchen bedrängt. Manche würden dem Druck nicht standhalten und müssten in eine psychiatrische Klinik eingeliefert werden, heißt es in dem Beitrag. Das Fazit der Erziehungswissenschaftlerin Linder ist unmissverständlich: "Rigide bis radikale Sichtweisen auf Religion/Spiritualität, auf Moral und gesellschaftliche Normen stehen einem Verständnis von Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession gegenüber. Grundprinzipien wie Neutralität, Akzeptanz, Selbstbestimmung und Vielfalt werden missachtet."

Vervollständigt wird der Überblick durch den Erfahrungsbericht einer Betroffenen, die spirituelle Pseudotherapien und Heilungsversuche in einer christlich-fundamentalistischen Gruppe erfahren hat. Eindrücklich schildert die anonyme Autorin, wie sie als junge Frau auf der Suche nach Heilung für eine Autoimmunerkrankung und nach dem Tod ihres Vaters auf eine Gruppe traf, die die pseudowissenschaftliche Heilmethode "Reiki" praktizierte. Von einer Psychotherapie hatte ihr die katholische Herkunftsgemeinde abgeraten. Doch zunehmend geriet sie in emotionale Abhängigkeit von der Meisterin, erlebte Schuldzuweisungen und psychische Belastungen. Erst nach Jahren gelang ihr die Ablösung von der Gruppe. Als sie viel später nach dem Tod ihrer Mutter eine depressive Phase erlebte, brachen alte Glaubensmuster wieder auf. Diesmal waren es fundamentalistisch-christliche Online-Gruppen, die ihr vermittelten, nur Jesus könne sie retten. Erst durch die weltanschaulich neutrale Unterstützung einer Trauerbegleiterin und einer Selbsthilfegruppe fand die Frau wieder Halt. Heute schreibt sie: "Ich möchte keine Glaubensbilder mehr von irgendwem annehmen!"

Sekteninfo NRW ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in Essen und betreibt eine Informations- und Beratungsstelle zu konfliktträchtigen religiösen Organisationen.

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